Für uns ist es heute kaum vorstellbar, wie eng Theologie und Naturwissenschaft noch in der Epoche der beginnenden Neuzeit miteinander verbunden waren. Durch die neuen Erkenntnisse der Naturwissenschaft wurde das Selbstverständnis des Menschen, der sich bis zu Kopernikus, Kepler und Galilei als Mitte und Krone der Schöpfung betrachtet hatte, schwer erschüttert. Zugleich war diese enge Verbindung der Ausgangspunkt für die Entwicklung moderner Naturwissenschaft und moderner Theologie.

    Kepler ist einer jener Wissenschaftler, die an diesem Anfang stehen. Er war nicht nur Naturwissenschaftler, sondern auch Theologe. Seit 1589 studierte er in Tübingen Theologie. Nur wenige Monate vor Vollendung seines Theologiestudiums kam er als Landschaftsmathematiker und Lehrer an die evangelische Stadtschule nach Graz (11. April 1594). Wenn heute angesichts der immer schneller wachsenden naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und der damit verbundenen technischen Möglichkeiten erneut das Gespräch mit der Theologie gesucht wird, erscheint es sinnvoll, nach dem Anfang der neuzeitlichen Entwicklung zurückzufragen.

    Exemplarisch läßt sich dies vor allem an der Person Keplers zeigen: Zwar gelingt es ihm noch, beide Aspekte, den naturwissenschaftlichen und den theologischen, miteinander zu verbinden; dennoch sind zu seiner Zeit beide Aspekte bereits unterschieden. Im Laufe der Lehrbildung im Protestantismus des 16. Jhdts hat sich nun die Lehre von der persönlichen Vereinigung als Voraussetzung der möglichen Gegenwart Christi zu einer Begründung entwickelt, die zusätzlich neben die Einsetzungsworte trat und die gleiche Bedeutung erhielt wie diese. Diese Begründung hat sich schließlich verselbständigt und ist zu einer eigenen Bedingung der Abendmahllehre geworden.

    War es möglich, daß der Leib Christi überall dort anwesend sein konnte, wo ein Abendmahl gereicht wurde? Kepler hielt diese Ubiquität (Allgegenwart) für abwegig und unterschrieb auch nicht die sogenannte Konkordienformel aus dem Jahre 1577, in der die Ubiquitätslehre enthalten war. Er hielt sich "auff das allen Laien gegebene Gebot Christi: Tut dies zu meinem Andenken..." nämlich die Darreichung von Wein und Brot im Abendmahl. Diese Denkweise entspricht der des Calvinismus.

    Die Lehre von der Person Christi sah hier anders aus. Zwar vertrat man auch hier die Zweinaturenlehre und ging von der persönlichen Vereinigung beider Naturen Christi aus; aber man bestritt, dass Eigenschaften der göttlichen Natur auf die menschliche Natur übertragen werden könnten. Die lutherischen Theologen wehrten sich gegen diese Lehre. Christus hatte ja in den Einsetzungsworten zum Abendmahl seine ganze Gegenwart verheißen; nicht nur die seines Geistes. Hier ging es um die wahre, volle, tatsächliche Gemeinschaft mit Gott in Christus und darin hing die Gewissheit des Heils. Die calvinistische Lehre war deshalb für das Luthertum der ärgste Gegner.Karikatur: Jörg Ehtreiber

    Auch Kepler hörte solche Predigten und geriet dadurch in seelische Not. Das eigene theologische Denken mußte versuchen, hier zu einer Lösung zu kommen. In der Frage nach der Person Christi und in dem Verständnis des Abendmahls geriet Kepler dabei immer stärker auf die calvinistische Seite.

    Doch auch den Calvinisten ging es entscheidend um die Gewissheit des Heils. Und so musste der Gewissheitsverlust, der in der Christologie und Abendmahlslehre von den Lutherianern kritisiert wurde, an anderer Stelle eingeführt werden. Diese Stelle war die Prädestinationslehre. Für die lutherische Theologie gilt: Die Entscheidung über Glaube und Unglaube, über Heil oder Unheil fällt bei der Teilnahme am Abendmahl. Wer an Christi Leib teilhat, der ist bei Gott, der ist erlöst, der hat ewiges Leben.

    Diese entscheidende Bedeutung hatte das Abendmahl im Calvinismus nicht. Hier war die Entscheidung über Heil oder Unheil schon viel früher gefallen. Gottes ewiger Ratschluss hatte bereits unveränderlich vorherbestimmt, dass die einen das ewige Heil erlangen werden und die anderen nicht.

    Sehr häufig wird Keplers Schicksal mit dem Galileis verglichen, der ja von der römischen Inquisition zum Widerruf seiner astronomischen Ansichten über das kopernikanische System gezwungen wurde. Beide waren zwar von der Richtigkeit des kopernikanischen Systems überzeugt, doch war die Situation Keplers eine gänzlich andere.

    Galilei wurde verurteilt, weil er das kopernikanische Weltbild für wahr hielt. Hier stand das alte ptolemäisch-aristotelische Weltbild gegen das neue. Die röm.-kath. Theologie war mit dem aristotelischen Weltbild viel stärker verbunden als die protestantische.

    Ein Angriff auf das Weltbild musste als Angriff auf Religion und Kirche verstanden werden.

    Die vom alten Weltbild geprägten Bausteine des Denkens besaßen für die protestantische Theologie keine entscheidende theologische Qualität. Hier galt in erster Linie die lutherische Lehre: Wenn der Leib Christi mit der Gottheit allgegenwärtig ist, ist es falsch, noch von einem Himmel jenseits der Fixsternspähre, wie dem coelum empyreum der Tradition, zu sprechen.

    Der Gegensatz Keplers zur Theologie seiner Zeit ist nicht primär in der Frage des Weltbildes begründet, sondern in ganz spezifisch theologischen Sachfragen. Der Streit geht um die Lehre von der Person Christi (Christologie) und um das Abendmahl; nicht um naturwissenschaftliche Probleme.

    Zum besseren Verständnis muss man sich die entscheidende Aufgabe jeglicher christlichen Theologie vor Augen führen: Eigentliche Aufgabe ist es, Gottes Gegenwart in der Welt zu bezeugen. An dieser Gegenwart entscheidet sich Tod oder Leben, entscheidet sich Zukunft. Letztlich geht es um die Frage: Bleibt der Mensch im Leben und Sterben sich selbst überlassen oder weiß er sich in seinem Glauben in Gemeinschaft mit der Macht, die alle Macht dieser Welt und des Kosmos in der Hand hält. Nach christlicher Überzeugung ist in Jesus von Nazareth Gottes Gegenwart in der Welt offenbar geworden, in ihm ist Gott Mensch geworden. Die kirchlich-theologische Tradition hat mit Hilfe antiker Denkmittel diesen Umstand mit der Zweinaturenlehre formuliert: In der Person Jesu Christi sind göttliche und menschliche Natur persönlich miteinander vereinigt.

    In der Übernahme des antiken Begriffes der Natur liegt die Problematik dieser Theologischen Tradition. Zudem hat sie eine große praktische Bedeutung für das Verständnis des heiligen Abendmahls. In den Einsetzungsworten zum Abendmahl heißt es: "Nehmet hin und esset, das ist mein Leib...." Daran hängt das Heil, die Gemeinschaft mit Gott, die uns im Abendmahl geschenkt wird. Doch wenn es gilt diese Worte nicht nur glaubend zu empfangen, sondern rational zu verstehen, dann gibt es Schwierigkeiten.

    Luther hat die Lehre von der persönlichen Vereinigung der beiden Naturen vertreten. Er kam zu dem Ergebnis, dass ein Leib auf dreierlei Weise gegenwärtig sein kann: Gegenständlich wie Dinge, ungegenständlich wie Engel und Geister und übernatürlich, wie allein Gott gegenwärtig ist. Auf die zweite und erst recht auf die dritte Weise könne auch der Leib Christi im Abendmahl gegenwärtig sein.

    Konnte Kepler der lutherischen Abendmahlslehre in ihrer letzten konfessionellen Zuspitzung nicht folgen und stimmte er hier eher der calvinistischen Lehre bei, so vermochte er doch auch die calvinistische Prädestinationslehre nicht nachzuvollziehen. Er hielt sie für unmenschlich. Ein Gottesbild eines teils rettenden, teils verdammten Gottes konnte er nicht teilen.Aus: N. Copernicus: De revolutionibus orbium coelestum (1543)

    An der katholischen Kirche kritisierte er das Papsttum und die damit verbundene Hierarchie. Vor allem jedoch wandte er sich gegen das kirchliche Lehramt mit seinem Anspruch, die Schrift allein gültig auslegen zu können und allein die Gültigkeit der dogmatischen Lehren bestimmen zu können. Nicht Papst und Lehramt waren nach Kepler entscheidend für die wahrheitsgemäße Auslegung der Schrift, sondern jeder Christ war bei ernsthaftem Studium dazu imstande.

    Zur Zeit Keplers war keine religiöse Seite bereit, nur ein wenig nachzugeben. Gerade diese mangelnde Friedensbereitschaft lehnte Kepler aufs Schärfste ab, und gerade hier setzte sein eigenes Bekenntnis ein. Kepler ging es in erster Linie um brüderliche Liebe der Christen untereinander; diese werde durch Verdammungsurteile verletzt! Sein eigentliches Ziel war friedliche Harmonie zwischen Konfessionen, ja zwischen den Menschen schlechthin.

    Zusammenfassend kann gesagt werden: Kepler stand als Theologe zwischen den verschiedenen Fronten der einzelnen Konfessionen. Zwar fühlte er sich als Glied der lutherischen Kirche, doch lehnte er das Kernstück der othodox-lutherischen Theologie, die Allgegenwart des Leibes Christi, ab. Das Herzstück des Calvinismus, die Prädestinatinslehre, lehnte er ebenfalls ab. Bei der katholischen Kirche waren es Papsttum und Lehramt. Er suchte die Einheit der Kirche - doch dies blieb ein frommer Wunsch. So widmete er sich dem "Buch der Natur". Er verstand diese Arbeit als Lobpreis Gottes.

    Seine Naturkunde gewinnt den Charakter einer Naturtheologie. Sehr eindringlich zeigt dies das Schlussgebet aus Mysterium Cosmographicum.

    "Jetzt aber, freundlicher Leser, vergiß nicht den Zweck aller dieser Dinge, das ist die Erkenntnis, Bewunderung und Verehrung des allweisen Schöpfers. Denn es heißt nichts, vom äußeren Augenschein zum inneren Sinn, von der sichtbaren Erscheinung zum inneren Schauen, von der Beobachtung des Weltlaufs zu dem so tiefen Ratschluß des Schöpfers vorzudringen, wenn du dich nicht in einem Schwung, mit der ganzen Hingabe deines Herzens aufwärts zur Erkenntnis, Liebe und Verehrung es Schöpfers fortreißen läßt. Drum stimme lauteren Sinnes und dankbaren Herzens mit mir in das Lob dessen, der das vollkommendste Werk begründet hat.

    Gott, du Schöpfer der Welt, unser aller ewiger Herrscher ! Laut erschallet dein Lob ringsum durch die Weite der Erde !

    Groß fürwahr ist dein Ruhm; Er rauschet mit mächtigen Schwingen durch den herrlichen Bau des ausgebreiteten Himmels.

    Schon das Kind verkündet dein Lob; mit lallender Zunge. Satt der Brust seiner Mutter stammelt es, was du ihm eingibst.

    Beugt durch die Kraft seiner Rede den trotzigen Stolz deines Feindes."

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